Prof. Dr. Andries Baart, Universiteit voor Humanistiek, Utrecht, Niederlande und Prof. Dr. Helena Olofsdotter Stensöta, Göteborgs Universitet, Schweden
Das Fachforum trug zur Weiterentwicklung der Ethik der Achtsamkeit als einer kritischen Theorie bei und zeigte deren Relevanz für eine ‚kritische Praxis‘ auf. Der Frage, ob eine intersubjektive Ethik der Achtsamkeit Wirkung in Institutionen entfalten kann, wurde in Vorträgen im Hinblick auf den Gesundheitssektor und auf sozialstaatliches Verwaltungshandeln nachgegangen.
Professorin Elisabeth Conradi eröffnete das Fachforum, indem sie einleitend zwei Denkbewegungen erläuterte: Zum einen führt der Weg von einer Makro-Analyse der Strukturen zur gelingenderen Hilfe, Unterstützung und Assistenz. Zum anderen können ausgehend von der Reflektion dieser gelingenderen Praxis politische Prioritäten vorgeschlagen werden. In diesem Fall wird der Weg vom Sozialen zum Politischen beschritten. Elisabeth Conradi formulierte vier Fragen: Sind soziale Interaktionen von achtsamer Zuwendung durchzogen? Was kann sozialberuflich Tätige darin unterstützen, sich achtsam zuzuwenden? Inwiefern können institutionelle Rahmenbedingungen die Kultivierung achtsamer Zuwendung unterstützen? Welchen Beitrag kann die Politik zu einem Wandel struktureller Rahmenbedingungen leisten?
Theoriewerkstatt Ethics of Care - Europäische Stimmen am 6. und 7.11.14
Im Anschluss an das Fachforum wurde eine Theoriewerkstatt durchgeführt. In seinem Eröffnungsvortrag erörtere Professor Frans Vosman, der einen Lehrstuhl für Zorgethiek an der Universiteit voor Humanistiek in Utrecht innehat, die Herausforderungen einer europäischen Forschung. Diese äußern sich bereits in den Schwierigkeiten, geeignete Begrifflichkeiten in verschiedenen europäischen Sprachen zu finden (Zorgethiek, Omsorgsetik, éthique du care, ethics of care, etica della cura), aber auch die Diversität der Kulturen und Traditionen spiele eine Rolle.
Die Philosophieprofessorin Christina Schües von der Universität zu Lübeck thematisierte die Frage, ob die zentralen Begrifflichkeiten einer Sorgeethik (ethics of care) von der handelnden Person her gedacht oder ob explizit die Perspektive derjenigen Menschen eingenommen wird, die Assistenz und Unterstützung erhalten. Schües sprach über verschieden Dimensionen von Bezogenheiten und Beziehungen.
Die Philosophin Catrin Dingler, M.A., Dozentin an der DHBW Stuttgart, knüpfte an die Subjektkritik der frühen feministischen Diskussionen um die ethics of care an und zeichnete den Weg nach, auf dem diese Einsichten drohen verloren zu gehen. Sie erörterte, inwiefern die Dekonstruktion des modernen Subjekts lediglich die Subjekte vervielfacht und Intersubjektivität diversifiziert hat. Die frühe care-ethische Forderung nach einer „radikalen Transformation“ (Held) der Gesellschaft blieb dagegen unerfüllt.
Die Politikwissenschaftlerin Jorma Heier, M.A., Universität Osnabrück, sprach von Verantwortung über zeitliche Distanz, die generationsübergreifend und historisch gedacht wird. Im Englischen wird der Ausdruck „Repair“ verwendet, wenn es darum geht, Sorge für das zerbrochene „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ (Hannah Arendt) und für vergangenes Unrecht zu tragen. Heier fokussierte die relationale Verantwortung für vergangene Verletzungen, die Auswirkungen auf gegenwärtige Menschen und Strukturen hat. Bleibt die Reaktion auf historisches Unrecht aus, so stellt dies ein weiteres Unrecht etwa in Form „moralischer Verlassenheit“ (Margaret Urban Walker) dar. Heier betonte, dass Sorgetätigkeiten Fäden in ein weltumspannendes und weltgestaltendes Beziehungsgewebe knüpfen, welches eine Welt überhaupt erst hervorbringt. Sie begreift die Welt als ein politisches Gebilde, das in dem entsteht, was Zwischen-den-Menschen ist: Ihren Beziehungen, Bezügen und Verhältnissen. Dass die von Menschen gestalteten Einrichtungen in der Welt über die Lebensdauer einzelner Menschen hinaus Bestand haben, verdankt sich „aufrechterhaltenden, reparierenden und Fortbestand sichernden“ (Joan Tronto) Tätigkeiten.
Anne Cress, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der DHBW Stuttgart, verband zwei Stränge miteinander: Die Ethik der Achtsamkeit und das Nachdenken über Zivilgesellschaft. Sie thematisierte den Umgang mit Gewalt in Partnerschaften und wies nach, dass es neben den von Gewalt betroffenen Menschen (Opfer) und den Gewalt ausübenden Menschen (Täter_innen) eine dritte Kategorie gibt: Jene Menschen, die als ‚Dritte’ aufmerksam sind oder wegschauen. Sie können durch Hinsehen, Verstehen und Handeln die Gewalt in Partnerschaften verringern. Um dies zu verdeutlichen schlug Cress vor, zwischen „vereinzelten Dritten“ und „zivilgesellschaftlich handelnden Dritten“ zu unterscheiden.