Rückblick Fachforum "Ethics of Care - Europäische Stimmen" am 6. November 2014

Prof. Dr. Andries Baart, Universiteit voor Humanistiek, Utrecht, Niederlande und Prof. Dr. Helena Olofsdotter Stensöta, Göteborgs Universitet, Schweden

Das Fachforum trug zur Weiterentwicklung der Ethik der Achtsamkeit als einer kritischen Theorie bei und zeigte deren Relevanz für eine ‚kritische Praxis‘ auf. Der Frage, ob eine intersubjektive Ethik der Achtsamkeit Wirkung in Institutionen entfalten kann, wurde in Vorträgen im Hinblick auf den Gesundheitssektor und auf sozialstaatliches Verwaltungshandeln nachgegangen.

Professorin Elisabeth Conradi eröffnete das Fachforum, indem sie einleitend zwei Denk­bewegungen erläuterte: Zum einen führt der Weg von einer Makro-Analyse der Strukturen zur gelingenderen Hilfe, Unterstützung und Assistenz. Zum anderen können ausgehend von der Reflektion dieser gelingenderen Praxis politische Prioritäten vorgeschlagen werden. In diesem Fall wird der Weg vom Sozialen zum Politischen beschritten. Elisabeth Conradi formulierte vier Fragen: Sind soziale Interaktionen von achtsamer Zuwendung durchzogen? Was kann sozialberuflich Tätige darin unterstützen, sich achtsam zuzuwenden? Inwiefern können institutionelle Rahmen­bedingungen die Kultivierung achtsamer Zuwendung unterstützen? Welchen Beitrag kann die Politik zu einem Wandel struktureller Rahmenbedingungen leisten?

Achtsamkeit, Anteil­nahme und das Wirken der Präsenz

Prof. Dr. Andries Baart

Sodann sprach der niederländische Professor Andries Baart mit Lehrstuhl für „Presentie en Zorg“ (Präsenz und Fürsorge) an der Universiteit voor Humanistiek in Utrecht über Achtsamkeit, Anteil­nahme und das Wirken der Präsenz.

Andries Baart gab einen Einblick in die von ihm durchgeführte qualitative Studie zum Phänomen der „Beachtung“ (Achtsamkeit). Zu Beginn grenzte er den Begriff „Beachtung“ definitorisch von anderen Begriffen wie Aufmerksamkeit, Konzentration, Fürsorge, Achtung oder auch Empathie ab und wies auf die Schwierigkeit der Beobachtung des Phänomens aufgrund seiner Instabilität hin. Anschließend erläuterte er, wie er mit Hilfe der Methode der Grounded Theory die Erscheinungs­formen von Beachtung auf drei niederländischen Onkologiestationen untersucht hat. Im Rahmen der Studie konnten drei verschiedene „Care-Kulturen“ identifiziert werden, die auch gleichzeitig auftreten können: die „in sich selbst gekehrte Care-Kultur“, die „offene Care-Kultur“ und die „relationale Care-Kultur“.

Im Anschluss an den Vortrag gab es insbesondere von Studierenden und Leitenden der Studien­gänge Erziehungshilfen/Kinder- & Jugendhilfe, Soziale Arbeit im Gesundheitswesen und Soziale Arbeit in Pflege und Rehabilitation Rückfragen und Diskussionsbedarf. Im Hinblick auf die Forschungsmethode wurde gefragt, inwiefern Pflegekräfte und Ärzt_innen über das Interesse der Forschenden informiert waren. Thematisiert wurden der Zusammenhang und die Wechsel­wirkungen zwischen der vorherrschenden Kultur und dem individuellen Handeln des Personals. Denn trotz einer etablierten instrumentellen Kultur, kann auch Personal beobachtet werden, das eher an den Bedürfnissen der Patient_innen orientiert ist. Es zeigte sich ferner, dass dieselbe Person verschiedene Patient_innen mal mehr und mal weniger achtsam (careful) behandelt. Care-Kulturen sind dementsprechend nicht in erster Linie von der Persönlichkeit, sondern auch stark vom Kontext, der Situation und dem organisatorischen Rahmen beeinflusst.

Neben den Ähnlichkeiten und Unterschiede zur klientenzentrierten Gesprächstherapie (Rogers) wurde insbesondere die Interdisziplinarität der Ethik der Achtsamkeit (Zorgethiek) hervorgehoben. Erörtert wurde auch die Frage, wie die mithilfe der grounded theory interpretierten Ergebnisse der empirischen Forschung zu einer philosophischen Theorie führen könnten, denn früher galt der Weg „from is to ought“ als problematisch. Andries Baart stellte den Übergang von der Empirie zur Theorie nicht als Sprung, sondern als eine schrittweise Annäherung dar.

Die Ethik der Achtsamkeit in Bürokratie und Verwaltung

Prof. Dr. Helena Olofsdotter Stensöta

Den zweiten Vortrag hielt die schwedische Professorin der Politikwissenschaft Helena Olofsdotter Stensöta von der Göteborgs Universitet über Die Ethik der Achtsamkeit in Bürokratie und Verwaltung.

Helena Olofsdotter Stensöta schlug vor, die Ethik der Achtsamkeit (Omsorgsetik) zu erweitern und explizit den öffentlichen Sektor einzubeziehen. Sie definierte „öffentliche Care-Ethik“ unter Bezug­nahme auf vier Schlüsselbegriffe: Aufeinander-angewiesen-Sein, Beziehungen, Verantwortung und Aufmerksamkeit für Kontexte. Care-ethische Belage sollten im Sinne einer „öffentlichen Care-Ethik“ bei allen staatlichen Maßnahmen von den ausführenden Institutionen berücksichtigt werden. Insbesondere bei behördlichen Ermessensentscheidungen kann die Perspektive einer „öffentlichen Care-Ethik“ den Fokus auf relevante, ansonsten vernachlässigte Aspekte richten. Helena Olofsdotter Stensöta diskutierte hinsichtlich der Einschätzung von Bedürfnissen die Methode der Beratschlagung und kritisierte, dass eine alleinige Orientierung an den Wünschen und Interessen der Klientel die Frage nahelegt, worin dann die Professionalität der Mitarbeitenden liege. Anhand diverser Beispiele, wie der Wohnungspolitik, der Stadt- und Infrastrukturplanung, der Wirtschafts­politik oder auch der Strafverfolgung zeigte sie auf, welche Auswirkungen eine öffentliche Care-Ethik haben könnte.

In der anschließenden Diskussion wurden die erwähnten Beispiele aufgegriffen und einzelne Aspekte, wie z.B. die Abstinenzorientierung innerhalb der Suchthilfe, kritisch hinterfragt. Teilweise wurde die Gefahr gesehen, dass eine öffentliche Care-Ethik sich in Form von paternalistischem, staatlichem Handeln realisieren könnte. Helena Olofsdotter Stensöta betonte, dass die Care-Ethik in einigen Teilbereichen des öffentlichen Sektors bereits in dem entsprechenden Professionalitäts­verständnis integriert sei.

Theoriewerkstatt Ethics of Care - Europäische Stimmen am 6. und 7.11.14

Im Anschluss an das Fachforum wurde eine Theoriewerkstatt durchgeführt. In seinem Eröffnungs­vortrag erörtere Professor Frans Vosman, der einen Lehrstuhl für Zorgethiek an der Universiteit voor Humanistiek in Utrecht innehat, die Herausforderungen einer europäischen Forschung. Diese äußern sich bereits in den Schwierigkeiten, geeignete Begrifflichkeiten in verschiedenen europä­ischen Sprachen zu finden (Zorgethiek, Omsorgsetik, éthique du care, ethics of care, etica della cura), aber auch die Diversität der Kulturen und Traditionen spiele eine Rolle.

Die Philosophieprofessorin Christina Schües von der Universität zu Lübeck thematisierte die Frage, ob die zentralen Begrifflichkeiten einer Sorgeethik (ethics of care) von der handelnden Person her gedacht oder ob explizit die Perspektive derjenigen Menschen eingenommen wird, die Assistenz und Unterstützung erhalten. Schües sprach über verschieden Dimensionen von Bezogenheiten und Beziehungen.

Die Philosophin Catrin Dingler, M.A., Dozentin an der DHBW Stuttgart, knüpfte an die Subjekt­kritik der frühen feministischen Diskussionen um die ethics of care an und zeichnete den Weg nach, auf dem diese Einsichten drohen verloren zu gehen. Sie erörterte, inwiefern die Dekon­struktion des modernen Subjekts lediglich die Subjekte vervielfacht und Intersubjektivität diversi­fiziert hat. Die frühe care-ethische Forderung nach einer „radikalen Transformation“ (Held) der Gesellschaft blieb dagegen unerfüllt.

Die Politikwissenschaftlerin Jorma Heier, M.A., Universität Osnabrück, sprach von  Verantwortung über zeitliche Distanz, die generationsübergreifend und historisch gedacht wird. Im Englischen wird der Ausdruck „Repair“ verwendet, wenn es darum geht, Sorge für das zerbrochene „Bezugs­gewebe menschlicher Angelegenheiten“ (Hannah Arendt) und für vergangenes Unrecht zu tragen. Heier fokussierte die relationale Verantwortung für vergangene Verletzungen, die Aus­wirkungen auf gegenwärtige Menschen und Strukturen hat. Bleibt die Reaktion auf historisches Unrecht aus, so stellt dies ein weiteres Unrecht etwa in Form „moralischer Verlassenheit“ (Margaret Urban Walker) dar. Heier betonte, dass Sorgetätigkeiten Fäden in ein weltumspannendes und welt­gestaltendes Beziehungsgewebe knüpfen, welches eine Welt überhaupt erst hervorbringt. Sie begreift die Welt als ein politisches Gebilde, das in dem entsteht, was Zwischen-den-Menschen ist: Ihren Beziehungen, Bezügen und Verhältnissen. Dass die von Menschen gestalteten Einrich­tungen in der Welt über die Lebensdauer einzelner Menschen hinaus Bestand haben, verdankt sich „aufrechterhaltenden, reparierenden und Fortbestand sichernden“ (Joan Tronto) Tätigkeiten.

Anne Cress, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der DHBW Stuttgart, verband zwei Stränge mit­einander: Die Ethik der Achtsamkeit und das Nachdenken über Zivilgesellschaft. Sie thematisierte den Umgang mit Gewalt in Partnerschaften und wies nach, dass es neben den von Gewalt betroffenen Menschen (Opfer) und den Gewalt ausüben­den Menschen (Täter_innen) eine dritte Kategorie gibt: Jene Menschen, die als ‚Dritte’ aufmerksam sind oder wegschauen. Sie können durch Hinsehen, Verstehen und Handeln die Gewalt in Partnerschaften verringern. Um dies zu verdeutlichen schlug Cress vor, zwischen „vereinzelten Dritten“ und „zivilgesellschaftlich handelnden Dritten“ zu unterscheiden.